ZDF-Doku: Gefährden gewalttätige Jugendliche unseren Rechtsstaat?

03.08.2023 um 21:15 Uhr
    Am Puls Jugendgewalt Sarah Tacke Titelbild | © ZDF /  IMAGO/Steffen Schellhorn
    Sarah Tacke ist promovierte Juristin und Rechtsexpertin des ZDF. | ©ZDF / IMAGO/Steffen Schellhorn

    Die Angriffe auf Staatsdiener häufen sich. ZDF-Reporterin Sarah Tacke fragt: Was ist los in unserem Land?

    Ein Artikel von Thomas Kunze.

    Schockierende Bilder: In der Silvesternacht 2022/23 kommt es in einigen deutschen Städten zur Eskalation. In Berlin setzen Randalierer Autos in Brand, bewerfen Polizisten und Feuerwehrleute mit Leuchtkörpern. 355 Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren werden laut Polizei eingeleitet, 145 Menschen verhaftet, vor allem junge Männer. Ermittelt werde unter anderem „wegen Angriffs auf und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Rettungskräfte und gefährlicher Körperverletzung“. Ein Fall für die ZDF-Reihe „Am Puls“, deren Journalisten stets dahin gehen, wo es brodelt.

    „Alle sprechen über die Täter. Unser Ansatz war: Wir sprechen mit ihnen“, sagt Sarah Tacke, die als Reporterin nachts in Berlin-Wedding mit einer Polizeistreife unterwegs war und jugendliche Intensivtäter traf – eine Gesellschaftsgruppe, die den Rechtsstaat hart auf die Probe stellt. Anfangs gab es die Idee, auch andere Gruppen ins Visier zu nehmen: Rechtsradikale und deren Anschläge, etwa die NSU-Morde, Linksradikale, Islamisten, arabische Clans, die den Staat verhöhnen, oder Anti-Demokraten wie die Reichsbürger, die sogar einen Staatsstreich planten.

    Immer mehr Jugendliche werden gewalttätig

    Tacke resümiert: „Jede Gruppe greift den Rechtsstaat auf andere Weise an, ist ein Phänomen für sich. Die Gruppen haben jeweils ganz unterschiedliche Motive und nichts miteinander zu tun.“ Das ZDF-Team konzentrierte sich deshalb auf das Thema Jugendgewalt. Anlass gibt es genug, wie die Polizeiliche Kriminalstatistik 2022 zeigt. Die Zahl jugendlicher Gewaltverdächtiger ist gegenüber 2021 um 41 Prozent gestiegen. Und die Täter werden jünger.

    Beispiele gibt es viele: In Salzgitter töten im Juni 2022 zwei Jungs, 13 und 14 Jahre alt, eine 15-Jährige. In Ibbenbüren ersticht ein 17-Jähriger im Januar 2023 eine Lehrerin. In Freudenberg erstechen zwei Mädchen im März eine Zwölfjährige. In Hamburg attackiert ein 14-Jähriger im Mai den Verkäufer in einem Shisha-Shop mit einem Messer und verletzt zwei Menschen. Nachdem im April 2023 ein 19-Jähriger einem Polizisten am Hamburger Jungfernstieg die Kniescheibe herausgetreten hatte, als der ihn festnehmen wollte, gründete die Polizei die Soko Alster. Hintergrund: Die edle Flaniermeile ist heute Treffpunkt von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, viele von ihnen sind mit Messern bewaffnet.

    In Freudenberg erstechen zwei Mädchen im März 2023 eine Zwölfjährige. | ©IMAGO / Rene Traut

    Alarmierende Zustände. Auch Schulleiterin Silke Müller aus Hatten in Niedersachsen spürt die beunruhigende Veränderung und hat ein Buch darüber veröffentlicht: „Wir verlieren unsere Kinder“. „Ich beobachte eine zunehmende Verrohung“, sagte die Pädagogin bei der Buchpräsentation. „Die moralische Hemmschwelle sinkt immer weiter ab.“ Müller zeigt ZDF-Reporterin Tacke das Waffenarsenal, das sie in den Klassen eingesammelt hat: Klapp- und Butterflymesser, eine Schreckschusspistole. Der Metallschrank der Direktorin ist voll – dabei liegt ihre Schule in einem ländlichen Idyll. „Heranwachsende testen Grenzen aus“, weiß Tacke. Aber die Grenzen scheinen sich zu verschieben – Richtung Brutalität, Verrohung, Gewalt.

    Wachsen hier die Radikalen und Extremisten von morgen nach?

    Lehrer sehen, dass Jugendliche sich oft schon in digitalen Parallelwelten ausleben. In Chatgruppen werden Mitschüler gemobbt, Gewalt- und Pornovideos verbreitet, Verschwörungstheorien aufgestellt – die einen tun das vielleicht naiv-unbedarft, die andere bewusst und immer aggressiver. Eine immense Herausforderung für Pädagogen – und für Eltern. Doch die ahnen oft nicht einmal, womit sich ihre Kinder täglich beschäftigen. „Von vielen Eltern wird die Gefahr völlig ausgeblendet“, beobachtet Müller. Einige Elternhäuser tragen sogar eine Mitschuld: Laut Studien ist häusliche Gewalt der größte Risikofaktor für gewalttätiges Verhalten bei Kindern.

    Das belegt eine Arbeit zur Entwicklung von Jugendlichen, die der Schweizer Kriminologe Dirk Baier 2022 veröffentlichte. Dort heißt es: „Junge Menschen, die von Seiten der eigenen Eltern Gewalt erleben, weisen eine höhere Bereitschaft auf, Normen zu brechen.“ Auch die Berliner Behörden kennen den Zusammenhang: Die Väter und Großväter jugendlicher Gewalttäter mit Migrationshintergrund sind der Polizei oft seit 20, 30 Jahren bekannt. Tacke: „Die Wurzeln liegen in den Familien. Das ist ein eigener Mikrokosmos.“ Schlagende Väter leben es vor, unter Gleichaltrigen gilt Gewalt dann als Mittel, sich Respekt zu verschaffen. Der Teufelskreis beginnt schon im Kindergarten. Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung verstärken das Aggressionspotenzial. Die Studie von Dirk Baier stellt eine weitere bedenkliche These auf: Jugendliche neigen heute generell zu mehr und brutalerer Gewalt als früher.

    Ein 14-Jähriger als tickende Zeitbombe

    Als Sarah Tacke allerdings selbst auf junge Intensivtäter trifft, ist sie überrascht: „Sie sind anders, als man sich das vorstellt. Wenn man mit ihnen spricht, öffnen sie sich. Ich habe sie als sehr sozial erlebt.“ Ein 14-Jähriger macht auf sie einen unsicheren, schüchternen Eindruck. „Aber seine Betreuer meinten, er sei eine tickende Zeitbombe.“ Trotzdem dürfe man die Jugendlichen nicht aufgeben: „Sie brauchen positive Vorbilder und Perspektiven. Die Gesellschaft muss versuchen aufzufangen, was die Familien nicht leisten.“ Den Rechtsstaat sieht Tacke durch die Jugendlichen nicht in Gefahr: „Sie haben Respekt vor Polizei und Gesetz. Das ist anders als bei kriminell organisierten Clans.“ Wichtig sei, dass auf Straftaten rasch Sanktionen folgen: „Täter müssen schnell zur Verantwortung gezogen werden, damit ihnen die Konsequenz ihrer Tat bewusst wird.“

    Bei den unter 14-Jährigen müssen die Behörden aktiv werden: Das Jugendamt ergreift dann Erziehungsmaßnahmen. „Auch im Jugendstrafrecht ab 14 steht der Erziehungsgedanke im Vordergrund“, so die ZDF-Juristin. Von langen Haftstrafen rät sie ab: „Nur Wegsperren hilft nicht, dann machen sie danach meist genauso weiter.“ Der Blick auf Frankreich, wo es immer wieder zu heftigen Krawallen kommt, macht Sarah Tacke Sorgen, denn auch bei uns fühlen sich viele Jugendliche abgehängt und sehen kaum Zukunftsperspektiven: „Frankreich ist nicht Deutschland, aber aus meiner Sicht könnte die Situation auch bei uns kippen. Deshalb ist es wichtig, präventiv zu wirken und die Jugendlichen nicht abzuschreiben. Die Gesellschaft muss sich kümmern.“

    Am 3. August läuft „Am Puls: Kein Respekt!“ um 22.15 Uhr im ZDF.

    Geheime Russland-Doku: Achtjährige werden dazu erzogen, in den Krieg zu ziehen

    Es war eine riskante Reise: Die beiden Journalistinnen Ksenia Bolchakova und Veronika Dorman waren drei Wochen in Russland unterwegs und fingen fürs ZDF-Magazin „frontal“ die Stimmung im Land ein. Was passiert in diesem Staat, aus dem seit über einem Jahr nur gefilterte Nachrichten nach außen dringen? Sie haben erschreckende Antworten auf diese Frage gefunden… Ein Artikel von Redakteurin Mirja Halbig. Bolchakova und Dorman führten heimlich zahlreiche Interviews – was seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine für Reporter aus dem Westen eigentlich unmöglich ist. Gelungen ist dies nur, weil beide Frauen einen russischen Pass besitzen und unbemerkt einreisen konnten. Mit der Dokumentation „Geheim in Russland: Reise durch ein unterdrücktes Land“ ist ein wertvolles Zeitdokument entstanden. Bolchakova und Dorman haben uns berichtet, unter welcher Spannung sie arbeiteten und warum sie glauben, dass ihre Ausreise aus Russland ein Abschied für immer war. 21 Tage lang ging es für die beiden nur um eines: sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. So stiegen sie für die Einreise nicht in ein Flugzeug, sondern fuhren ab Helsinki mit dem Bus nach Sankt Petersburg und waren auch in Russland Tausende Kilometer nur mit Bus und Bahn unterwegs. Hotels mieden sie. „Wichtig war, dass wir nirgendwo registriert wurden. Deshalb haben wir auch nicht mit der Kreditkarte gezahlt“, sagt Dorman. „Uns war jederzeit bewusst, wie gefährlich dieser Trip ist. Vor dem Ukrainekrieg war es bereits sehr schwer, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten – für unsere Mission war es unmöglich.“ Kinder sind bereit, für ihr Land zu sterben Die Journalistinnen haben einen engen Bezug zum größten Land der Erde: Ihre Eltern stammen aus Russland, so kennen sie viele Einheimische. Bolchakova, heute 40, wurde in Moskau geboren, Dorman, 41, in New York. Beide wuchsen in Paris auf, wo sie heute auch leben. Monatelang bereiteten sie das Projekt vor, bis es im November endlich losging. „Unser erster Eindruck in Moskau war, dass sich nicht viel geändert hat: Man spürte nicht wirklich, dass Russland im Krieg ist. Wir hatten das Gefühl, dass die Menschen gar nicht wissen, was Schreckliches in ihrem Nachbarland passiert. Das war verstörend“, sagt Dorman. „Aber je länger wir unterwegs waren, umso mehr erlebten wir Anspannung und auch Angst in der Bevölkerung.“

    Weiterlesen