Die Heilkraft unserer Muskeln: Sie dienen nicht nur der Bewegung, sie haben großen Einfluss auf unsere Gesundheit. Wie, erklärt hier Prof. Ingo Froböse.
Ein Artikel von Redakteur Alexander Weis.
Ohne sie wären wir gar nichts. Die einfachsten Dinge wären nicht möglich: morgens eine Kaffeetasse halten, genussvoll vom Croissant abbeißen, später zur Arbeit gehen – oder in den Supermarkt. Ohne die Arbeit unserer Muskeln wäre unser Alltag nicht zu bewältigen, wir könnten uns nicht ernähren, wären nicht lebensfähig. Man denke nur an den wohl wichtigsten und fleißigsten unserer Muskeln: das Herz. Ohne Pause pumpt es pro Tag rund 9000 Liter Blut durch den Organismus.
Gut trainierte Muskeln können uns zu sportlichen Höchstleistungen treiben – oder uns ein attraktives Äußeres verleihen, was vielen derzeit wichtiger zu sein scheint. Trotzdem wird der wahre Wert der Muskeln gern unterschätzt. Denn tatsächlich sind sie viel mehr als ein Bewegungsorgan. Der Zustand des Muskelgewebes hat enormen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden – und das auf vielen Ebenen.
„Muskeln sind ein wahres Wunderwerk unseres Körpers, und ihre Heilkraft ist stärker als die der meisten Medikamente“, schwärmt Ingo Froböse, Professor für Prävention und Rehabilitation im Sport an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er hat ein neues Buch geschrieben, das die Bedeutung der Muskulatur in ihrer Gesamtheit würdigt. Denn ihr Einfluss ist vielfältig: sei es auf das Herz-Kreislauf-System, zahllose Stoffwechselprozesse, Knochen, Gelenke oder die Leistungsfähigkeit der Augen. Selbst das Gehirn bleibt durch sie länger fit. Die geniale Apotheke in unserem Körper
Erst seit gut 15 Jahren weiß die Wissenschaft: Die Muskulatur ist auch als Drüse aktiv, ihre Fasern produzieren also Substanzen und geben diese an den Körper ab. Damit stellt sie die größte Drüse unseres Körpers dar, denn allein unsere Skelettmuskulatur macht zwischen 40 und 65 Prozent unserer Körpermasse aus. Prof. Froböse erklärt: „Wenn Muskeln aktiv werden, schütten sie viele Botenstoffe aus, die sogar unsere zentralen Organe Gehirn, Herz, Leber und Darm direkt beeinflussen.“ Die sogenannten Myokine sind Eiweißstoffe, die in ihrer Wirkweise Hormonen ähneln, sie lösen im Körper bestimmte Reaktionen aus oder steuern verschiedene Stoffwechselprozesse.
Myokine stimulieren etwa die Bildung neuer Abwehrzellen für das Immunsystem. Sie bekämpfen und regulieren Entzündungen, optimieren den Fettabbau, erhalten die Knochenfestigkeit, fördern die Neubildung von Blutgefäßen und vieles mehr. Bestimmte Myokine können sogar das Krebsrisiko senken. Wie viele von diesen Heilstoffen abgegeben werden, hängt zum einen von der Dauer körperlicher Aktivitäten ab, zum anderen von der Muskelmasse: je mehr vorhanden, desto höher die Ausschüttung. „Bislang sind rund 600 unterschiedliche Myokine bekannt, vermutlich gibt es aber etwa 3000“, sagt Prof. Froböse.
Viele ihrer Wirkungen sind nur zum Teil verstanden, doch das Interesse an den rätselhaften Substanzen ist groß. Weltweit wird in Laboren an ihnen geforscht: Sie könnten Grundstoffe für völlig neue Medikamente liefern – etwa gegen Diabetes Typ 2 oder Adipositas. Training für elastische Gefäße
Regelmäßiges Training stärkt nicht nur das äußere Muskelkorsett, sondern auch den Herzmuskel. Ideal ist eine Kombination aus Ausdauer- und Krafttraining. Die Sauerstoffversorgung des Körpers verbessert sich, und die Muskeln der Herzkammern werden dicker. Veränderungen, die dafür sorgen, dass ein trainiertes Herz bei gleicher Leistung weniger häufig schlagen muss, da mit jedem Schlag mehr Blut in den Körper gepumpt wird. Eine enorme Entlastung für unser Zentralorgan: Der Blutdruck sinkt und damit auch das Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko.
„Generell sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland die häufigste Todesursache und machen rund ein Drittel aller Sterbefälle aus“, warnt Sportwissenschaftler Froböse. Durch Sport ist es häufig möglich, die Menge an Herzmedikamenten zu verringern oder sogar komplett abzusetzen. Auch Venen und Arterien profitieren vom Sport: „Wenn wir uns intensiv bewegen, erhöht sich der Puls, und es kommt zu einem schnelleren Blutfluss. Dadurch werden die Gefäßwände stärker gedehnt, das reizt und trainiert sie“, so der Wissenschaftler. Die Gefäße bleiben auf diese Weise lange jung und elastisch.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Für Prof. Ingo Froböse ist effizientes Muskeltraining mehr als nur reines Krafttraining. „Es handelt sich dabei um gezielte Maßnahmen zur Erhaltung und Steigerung von Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit und Fitness für den Sport und den Alltag im Allgemeinen“, so der Experte. Ideale Voraussetzungen, um ein weiteres Gesundheitsproblem der modernen Wohlstandsgesellschaft in den Griff zu bekommen: Übergewicht. Fast zwei Drittel aller Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland sind laut Robert Koch-Institut (RKI) übergewichtig, knapp ein Viertel der Erwachsenen sogar stark übergewichtig.
„Aus meiner Sicht ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben unserer Leistungsgesellschaft, den Bewegungsmangel und die daraus folgenden gesundheitlichen Probleme nachhaltig in den Griff zu bekommen“, so Froböse. Problematisch ist vor allem das viszerale Fett, also jene Ablagerungen, die in der Bauchhöhle innere Organe wie Leber oder Herz umhüllen. Denn dieses Gewebe setzt zahlreiche entzündungsfördernde Stoffe frei, die eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des metabolischen Syndroms spielen.
So bezeichnen Mediziner ein Bündel von Faktoren, die jeder für sich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen. Dazu gehören neben Fettleibigkeit vor allem ein erhöhter Blutdruck, erhöhter Blutzucker und eine Störung des Fettstoffwechsels. Ein „tödliches Quartett“, das häufig gemeinsam auftritt. Doch wie kann man zu einem gesunden Körpergewicht finden? Hungerkuren führen selten zum Ziel. Die dauerhafte Umstellung auf gesunde Ernährung dagegen schon. „Am besten in Kombination mit regelmäßigem Muskel- und Herz-Kreislauf-Training, unterstützt durch eine proteinreiche Kost“, rät Prof. Froböse. So lässt sich verhindern, dass durch die Diät wertvolle Muskelmasse abgebaut wird.
Noch vor 30 Jahren war Diabetes Typ 2 eine typische Erkrankung von Menschen über 65. Heute sind bereits zwei Drittel der Patienten zwischen 20 und 64 Jahren alt. Der häufige Verzehr zuckerreicher Lebensmittel überfordert auf Dauer die Bauchspeicheldrüse. Sie kann nicht mehr genug Insulin produzieren. Zudem stumpfen die Körperzellen allmählich gegenüber dem Hormon ab. Sie werden insulinresistent und können nicht mehr genug Zucker aus dem Blut aufnehmen: Ein Diabetes Typ 2 entwickelt sich. Auch hier ist regelmäßiges Muskeltraining ein Teil der Lösung. Denn neben einer ungesunden Ernährung ist vor allem Bewegungsmangel eine Hauptursache für diese Entwicklung.
Ein aktiver Lebensstil verringert das Diabetesrisiko deutlich und kann sogar bei Erkrankten Wunder bewirken: Viszerales Bauchfett wird abgebaut, aktive, zuckerverbrennende Muskelzellen aufgebaut. Die Insulinsensitivität der Zellen steigt, der Glukosetransport in die Muskelzelle verbessert sich. Während Patienten mit genetisch bedingtem Diabetes Typ 1 nicht ohne Medikamente auskommen, können Typ-2-Diabetiker mit der richtigen Ernährung und vor allem mit Bewegung ihre Zuckerkrankheit so weit in den Griff bekommen, dass sie in den meisten Fällen ihre Arzneimittel nach und nach verringern und sogar absetzen können.
Mangel an Bewegung führt zu einem weiteren weitverbreiteten Leid: Rückenschmerzen. Fast zwei Drittel der Deutschen klagen mindestens einmal im Jahr über derartige Probleme. Dabei sind vor allem der untere Rücken und der Nacken betroffen. „Die Muskeln und die zugehörigen Faszien sind im Wesentlichen verantwortlich für Rückenschmerzen, und zwar für mehr als 80 Prozent: Wenn sich diese dynamischen Strukturen negativ verändern, indem sie sich verspannen oder verkleben, tut das richtig weh“, weiß Froböse zu berichten.
Grundproblem: ein extrem bewegungsarmer, sitzender Lebensstil. Muskelmasse wird abgebaut, die Wirbelsäule wird instabiler, es kommt zur Überlastung von Bandscheiben, Wirbelgelenken oder Wirbelkörpern. Wenn es bereits zwickt und zieht, verschärft Schonung nur die Problematik. Ein Teufelskreis beginnt. Entscheidend für den gesunden Rücken sind dabei weniger die von außen in ihren Konturen sichtbaren oberflächlichen Muskeln. Die wesentlich wichtigeren Strukturen sitzen in der Tiefe des Rückens: kurze feine, aber kräftige Muskeln, die extrem funktions- und leistungsfähig sein müssen, denn sie verbinden alle Wirbelkörper einzeln miteinander.
„Wenn Sie Ihren Oberkörper drehen und leicht rotieren, ist dies das beste Training für die tiefen Rückenmuskeln“, rät Prof. Ingo Froböse. Auch Sportarten wie Nordic Walking, Wandern, Joggen, Skilaufen, Inlinern, Radfahren oder Kraulschwimmen eignen sich gut, um sie zu fordern. Und das sollte man, denn ausgerechnet diese tiefen Muskeln leiden am meisten unter Bewegungsmangel: Sie verkümmern fast doppelt so schnell wie andere Muskeln!
Wenn Gelenke wie Knie, Hüfte oder Schulter schmerzen, steckt oft eine Arthrose dahinter. Dann ist die schützende Knorpelschicht über dem Gelenkknochen bereits defekt. Entlastung bietet ein gut trainierter Muskelmantel etwa rund um das Knie. Der wirkt wie ein Stoßdämpfer und gibt dem Gelenk Stabilität: ein wichtiger mechanischer Schutz, um Arthrose vorzubeugen oder ein Fortschreiten zu bremsen.
Zwar kann sich Knorpel nur schlecht neu bilden, ein gewisses Regenerationspotenzial besitzt er dennoch. Dazu muss er aber ausreichend mit Nährstoffen versorgt werden. Auch das funktioniert nur über Muskelarbeit: Die Stoffwechselaktivität wird dadurch im Gelenk erhöht, in der Folge werden Nähr- und Vitalstoffe dem Knorpel zugeführt.
Muskeln und Knochen bilden ein unschlagbares Team. Sie bilden gemeinsam unser Stütz- und Bewegungssystem und geben uns quasi unsere Körperkontur. Nur wenn Muskeln die passenden Belastungsreize auf ihre zugehörigen Knochen ausüben, werden die Zusammensetzung des Knochens und sein Mineralgehalt stabil bleiben. Andernfalls droht Osteoporose. Neben Krafttraining sind zur Vorbeugung gegen Knochenschwund im Ausdauerbereich Gehen, Walking, Nordic Walking, Wandern oder auch Laufen gute Methoden, damit sich die Knochensubstanz positiv entwickelt.
Mit zunehmendem Alter stellt sich bei den meisten Menschen die Altersweitsichtigkeit ein. Die Linsen verlieren ihre Elastizität, und der Punkt, in dem wir Objekte noch scharf erkennen, rückt immer weiter von den Augen weg. Tatsächlich lassen sich auch die Muskeln der Augen trainieren. Für die Akkommodation, die Anpassung der Linse an verschiedene Entfernungen, sind die inneren Augenmuskeln zuständig.
Werden diese Muskeln durch schnelles und regelmäßiges Wechseln zwischen Nah- und Weitsehen stimuliert, trainiert das deren Leistungsfähigkeit. Durch Übungen wie Augenkreisen kann man hingegen die äußeren Augenmuskeln trainieren, die die Augäpfel bewegen. So lassen sich häufig Verspannungen und Kopfschmerzen vorbeugen oder lindern, selbst wenn wir zu lang auf den Computermonitor gestarrt haben.
Bewegung, Sport und Training beeinflussen alle Zellen des Körpers, auch die des Gehirns. Sie werden besser versorgt mit Sauerstoff, Flüssigkeit und Nährstoffen, dies führt wiederum zu einer höheren Gedächtnisleistung, Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit. „Selbst das Vokabellernen fällt leichter und klappt schneller, wenn wir es während eines ruhigen Spaziergangs machen“, verrät Ingo Froböse.
Eine Studie der Uni Leipzig hat gezeigt, dass mangelnde körperliche Aktivität und ein sitzender Lebensstil hingegen die bedeutsamsten Risikofaktoren für eine Alzheimerdemenz darstellen. Durch regelmäßiges Training lässt sich überraschend gut dagegen angehen – und gegen viele andere Gebrechen, wie wir gesehen haben. Denn wir besitzen unsere körpereigene Muskel-Apotheke, die jederzeit griffbereit ist. Wir müssen sie nur aktivieren, damit sie ihre fantastischen Heilstoffe auch herausgibt.
Passend zum Thema: Am 25. April läuft „Fitte Muskeln, fitter Körper“ um 21.00 Uhr bei ARD Alpha.