„Terra X“: Dr. Mai Thi Nguyen-Kim unternimmt eine Expedition ins Hirn

17.03.2023 um 10:32 Uhr
    Mai Thi Nguyen-Kim Titelbild | © ZDF / Maike Simon
    Terra X Maibrain: Können IQ-Trainings wirklich helfen, Mai Thi Nguyen-Kim? | ©ZDF / Maike Simon

    Es wiegt etwa 1,3 Kilogramm, besteht aus rund 86 Milliarden vernetzten Nervenzellen und birgt sämtliche Emotionen und Erinnerungen. Unser Gehirn ist ein wahres Wunderwerk. Jetzt wagt die zweiteilige ZDF-Doku „Terra X: MaiBrain“ eine wissenschaftliche Expedition ins menschliche Denkorgan, angeführt von Dr. Mai Thi Nguyen-Kim, Wissenschaftsjournalistin und Mitglied im Senat der Max-Planck-Gesellschaft.

    Im ersten Teil erklärt die studierte Chemikerin am 19.3. zunächst den aktuellen Stand der Forschung über die Themen „Sinne und Bewusstsein“. Am 26.3. beleuchtet sie im zweiten Teil neueste Erkenntnisse über „Schlaf und Traum“. Ebenfalls erhellend: In Spielszenen „begegnet“ Dr. Nguyen-Kim großen Denkern der Weltgeschichte wie Platon, Aristoteles, Descartes und Sigmund Freud, dargestellt von Comedian Michael Kessler.

    In Gesprächen mit den Philosophen und Wissenschaftlern veranschaulicht die 35-Jährige den Zuschauern Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnistheorie und des menschlichen Geists. Exklusiv gibt sie uns einen ersten Einblick in die Doku und verrät sechs faszinierende Fakten über das Gehirn: über seine Kartierung, Sinnestäuschungen, den „Strom des Bewusst - seins“, unlösbare Widersprüche, Hirnschrittmacher, Trainingsbücher für mehr Intelligenz – und darüber, wie sie selbst ihre grauen Zellen fit hält.

    Totaler Durchblick: Im TV lässt Dr. Nguyen-Kim ihr Gehirn per Magnetresonanztomografie (MRT) untersuchen | ©ZDF / Maike Simon

    Wie viele Gehirnregionen gibt es wirklich?

    Bis vor Kurzem beriefen sich Forscher, so Dr. Nguyen-Kim, auf eine Theorie, die vor rund 100 Jahren Dr. Korbinian Brodmann aufstellte, der „Einstein der Medizin“. Sie besagt: Unsere Hirnrinde besteht aus ins - gesamt 43 Arealen. Noch immer sei Brodmanns Modell die medizinische Grundlage bei neurochirurgischen Eingriffen – und das, obwohl seine Einteilung verschiedener Hirnregionen für unterschiedliche Funktionen nicht mehr dem neuesten Stand der Forschung entspricht.

    „Letzten Erkenntnissen zufolge gibt es viel mehr Hirnregionen“, erklärt die Wissenschaftsjournalistin. „Diese Erkenntnis verdanken wir Prof. Katrin Amunts, Direktorin am Forschungszentrum Jülich, die den Aufbau unseres Gehirns mit einem 3-D Atlas darstellt und bislang 248 Hirnregionen kartiert hat. Der Fachbegriff für ihre Art der Forschung lautet ‚Brain Mapping‘.“

    Wie geht die Forscherin aus Jülich dabei genau vor? Mai Thi Nguyen-Kim berichtet: „Das Team von Prof. Amunts hat in den letzten 25 Jahren insgesamt 23 Gehirne aus Körperspende-Programmen in einer Art ‚Tiefkühltruhe‘ in 3000 bis 5000 hauchdünne Scheiben geschnitten, dabei die Nervenfasern erhalten und sie obendrein gescannt.“ Schicht für Schicht habe ein Supercomputer das Hirnmodell dann wieder zusammengesetzt, es entstand eine Art „Google Maps fürs Gehirn“.

    Präzise: Mit Nagellack versiegelt Nguyen-Kim eine hauchdünne Gehirnscheibe | ©ZDF / Maike Simon

    Besonders interessant: Für die TV-Doku hat Dr. Nguyen-Kim höchstpersönlich mit den hauchdünnen Scheibchen hantiert – und ein Hirnpräparat beim anschließenden Zusammensetzen gekonnt mit Nagellack versiegelt. Ihr Fazit nach dem Besuch in Jülich: „Ich fand es erhellend, wie viel handwerkliches Geschick die Arbeit dieser Forscher erfordert. Denn gemeinhin nimmt man immer an, dass der Job solcher Leute hauptsächlich Kopfarbeit sei – also Nachdenken und Auswerten. Doch das hat sich als Irrtum entpuppt!“

    Warum sehen wir eher mit dem Hirn als mit den Augen?

    Wir alle kennen Illustrationen, auf denen wir wahlweise ein junges Mädchen oder eine alte Frau wahrnehmen beziehungsweise einen Hasen oder eine Ente. Doch warum sehen wir auf Anhieb eine der beiden Alternativen und brauchen eine gewisse Zeit, bis wir auch die andere erkennen? Die Antwort ist verblüffend: „Nicht unsere Augen entscheiden über das, was wir sehen, sondern unser Gehirn“, erklärt Dr. Nguyen-Kim. „Wir sehen quasi, was wir denken. Warum? Ganz einfach: Augen sind im Lauf der Evolution über 40-mal unabhängig voneinander entstanden, mit Dutzenden von Augentypen, die auf Licht, Bewegungen oder Konturen unterschiedlich reagieren. Unser Bild der Welt entsteht aber erst im Gehirn – anhand der Infos, die uns die Augen liefern.“

    Ein gutes Beispiel ist für die renommierte Wissenschaftsjournalistin der Streit, der in den sozialen Netzwerken unter dem Stichwort #TheDress seit Jahren um die wahren Farben eines Kleids geführt wird. Ist es nun weiß-golden oder blauschwarz? Die unterschiedliche Wahrnehmung habe, so Dr. Nguyen-Kim, allein damit zu tun, wie das Gehirn die Umgebung des Kleids interpretiere, konkret, ob man es einem schattigen oder einem lichtdurchfluteten Umfeld zuordne: „Diese unterschiedlichen Zusatzkontexte können wir nicht bewusst beeinflussen, weil sie individuell erlernt und gespeichert wurden. Im Klartext heißt das: Wie Reize vom Auge ins Hirn weitergeleitet und dort verarbeitet werden, kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein.

    Und wir haben keine Möglichkeit, die Außenwelt objektiv wahrzunehmen, wir tun das immer durch den Filter unseres Gehirns.“ Wie sieht Nguyen-Kim das berühmt gewordene Kleid selbst? „Für mich ist es weiß-golden“, sagt sie, „obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt.“

    Wieso denkt das Gehirn immer in der Zukunft?

    Kommt uns ein abbiegendes Auto in die Quere? Sind die vor dem Bett stehenden Pantoffeln eine potenzielle Stolperfalle? Egal ob wir uns im Straßenverkehr bewegen oder morgens aufstehen und vom Bett ins Badezimmer gehen: Um zu überleben, muss unser Gehirn unaufhörlich unsere komplette Umgebung scannen und permanent abschätzen, was im nächsten Moment passiert. Verrückterweise geschieht das automatisch anhand von Erfahrungen und Erlerntem.

    Wie ist unser Gehirn aufgebaut? Das versucht man am Forschungszentrum Jülich mit einem 3-D-Atlas unseres Denkorgans darzustellen | ©ZDF / Maike Simon

    „Im Grunde ist unser Gehirn eine Vorhersagemaschine“, so Dr. Nguyen-Kim. „Wenn man es ganz genau nimmt, liegt alles, was wir wahrnehmen, in unmittelbarer Zukunft.“ Aber wie kann unser Gehirn Ereignisse vorhersagen, die in den nächsten Sekundenbruchteilen eintreten werden, um unsere Aktionen dementsprechend zu beeinflussen? „Dafür ist ein bestimmtes Areal verantwortlich, das Cerebellum, auch Kleinhirn genannt“, erklärt die Expertin. „Dieser Teil des Hirns sieht ein bisschen aus wie ein Hoden und hat alle Erfahrungswerte abgespeichert, was zu einem ständigen ‚Strom des Bewusstseins‘ und einem ‚unaufhörlichen Flow‘ führt. Letztlich ist das Cerebellum noch voller Geheimnisse: Es umfasst zwar 80 Prozent aller Neuronen unseres Hirns, also aller Impulsübermittler, aber seine Funktion ist noch immer nicht ergründet.“

    Womit stößt das Gehirn an seine Grenzen?

    Wie können wir uns sicher sein, dass die Welt tatsächlich real existiert und wir nicht alles träumen, was wir sehen und erleben? „Überhaupt nicht“, bilanziert Mai Thi Nguyen-Kim. „Die Frage, woher wir wissen, dass die Welt in unseren Köpfen existiert und wir uns nicht in einer Simulation befinden, beschäftigt Philosophen und Filmemacher nicht erst seit den Blockbustern ‚Matrix‘ und ‚Vanilla Sky‘, sondern bereits seit der Antike. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Frage um das wohl größte Gehirnrätsel, da es keinen wissenschaftlichen Beweis für die eine oder andere Behauptung gibt.“ Erkenntnistheoretisch, so die Expertin, stoße das Hirn damit an seine Grenzen: „Die wissenschaftliche Bezeichnung für das unlösbare Gedankenspiel lautet übrigens ‚Brain in a vat‘, also ‚Gehirn im Tank‘.

    Dieser Titel bezieht sich auf die philosophische Frage, ob ein künstlich in einem Tank am Leben gehaltenes Gehirn feststellen könnte, ob es sich in einer echten oder vorgetäuschten Welt befindet. Tatsächlich ist dieses Rätsel für Wissenschaftler, Philosophen und ja, auch Gehirnforscher, extrem attraktiv. Denn es ist ohnehin ein Laienverständnis, dass Wissenschaftler auf alle Fragen Antworten parat haben.“

    Wie funktioniert ein Hirnschrittmacher?

    Kann man verloren gegangene körperliche Fähigkeiten zurückgewinnen? Kann etwa Parkinsonpatienten geholfen werden, die unter Muskelsteifheit oder einem Tremor, einem unwillkürlichen Zittern, leiden? „Ja“, weiß Dr. Mai Thi Nguyen-Kim. „In unserer TV-Doku stellen wir den Tübinger Professor Alireza Gharabaghi vor, der Experte für die Tiefe Hirnstimulation ist – ein Eingriff, bei dem ein Hirnschrittmacher implantiert wird. Er tastet sich mit Elektroden ins Hirn vor, bis er eine Region namens ‚subthalamischer Kern‘ erreicht. Sie ist nur wenige Millimeter groß, und bei ihr handelt es sich um eine Art ‚Superkreuzung auf den neuronalen Autobahnen‘.“

    Was ist dabei die größte Herausforderung für den Arzt? „Gharabaghi muss die Elektroden hochpräzise im Kern platzieren und einen korrekten Punkt stimulieren, um die Symptome der Krankheit zu beseitigen. Und mehr noch: Weil die Zentren für Denken, Empfinden und Motorik auf der ‚Superkreuzung‘ extrem nahe beieinanderliegen, findet der Eingriff bei vollem Bewusstsein des Patienten statt. Denn nur der Betroffene selbst kann erklären, ob er während der Stimulation einer bestimmten Gehirnregion wieder ein Kribbeln in den Gliedern verspürt.“ Zum Glück, so Mai Thi NguyenKim, sei das menschliche Gehirn selbst aber komplett schmerzunempfindlich, sodass betroffene Patienten während des Eingriffs nichts davon spüren.

    Welches IQ-Training ist seriös und sinnvoll?

    Lässt sich das Gehirn trainieren wie ein normaler Muskel? Tipps dafür gibt es zuhauf: Nüssekauen für die Synapsen, häufige Spaziergänge an der frischen Luft, das Mitraten bei Quizshows im TV – vor allem aber Übungen für mehr Intelligenz und Kombinationsvermögen, die unterdessen in Büchern oder per App angeboten werden. Was hält Dr. Mai Thi Nguyen-Kim davon? „Zwar gibt es Intelligenztraining, und das menschliche Gehirn ist auch grundsätzlich bis zu einem gewissen Grad trainierbar, weil sich durch Lernreize ständig neue Synapsen bilden können.“

    Doch die Wissenschaftlerin ist überzeugt: „Das wirksamste Training besteht in jahrelanger Bildung. Insofern sind die meisten Apps und Bücher, die schnell Grips und Cleverness versprechen, wohl tendenziell ein Marketingtrick.“ Und wie hält die 35-Jährige ihren eigenen Kopf fit? „Indem ich alle paar Wochen bis Monate etwas völlig Neues lerne – weil mein Beruf das natürlich erfordert“, sagt Dr. Mai Thi Nguyen-Kim. „Inzwischen bilde ich mir tatsächlich ein, dass ich durch die jahrelangen Lernprozesse mehr synaptische Verknüpfungen habe als früher.“

    Teil 1 von „Maibrain: Reise ins Gehirn“ läuft am 19. März um 19.30 Uhr im ZDF.