Vor dem Hintergrund des sogenannten "Herero-Aufstands" in der Kolonie "Deutsch-Südwestafrika" und des daraus resultierenden Völkermords 1904 beleuchtet Lars Kraumes fiktive Geschichte um einen jungen Ethnologen ein erschütterndes, wenig erzähltes Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte.
Düstere Momente der deutschen Geschichte, aufgearbeitet auf der großen Leinwand: Da geht es meistens um den Nationalsozialismus, seltener, etwa bei "Im Westen nichts Neues", auch um den Ersten Weltkrieg. Regisseur Lars Kraume greift in "Der vermessene Mensch" noch weiter zurück: zu den Kolonialverbrechen im heutigen Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts und den Genozid an den Herero und Nama im Januar 1904. Es ist ein spannender, aber auch höchst unbequemer Blick in die Vergangenheit. Das ZDF zeigt den Film am Freitag, 4. Oktober um 20.15 Uhr und in der Mediathek. Im Anschluss folgt die Doku "Der vermessene Mensch - die Dokumentation"
Viele Menschen hätten diese Frage um 1900 für eine rhetorische gehalten, vor allem auch Vertreter der Wissenschaft, so wie Hoffmanns Professor Josef Ritter von Waldstätten (der am 29. Mai 2023 verstorbene Peter Simonischek in seiner letzten Rolle). Damals war es eine weitverbreitete Überzeugung, dass der europäische Mensch etwa dem afrikanischen "Buschmann" geistig und kulturell deutlich überlegen sei, was man unter anderem durch die Vermessung von Schädeln zu belegen versuchte. Alexander Hoffmann aber zweifelt an dieser Theorie. Als eine Delegation von Herero und Nama nach Berlin kommt, lernt er die Dolmetscherin Kezia (Girley Charlene Jazama) kennen und kann auch an ihr nichts Minderwertiges finden, im Gegenteil.
Dann wird Hoffmann als Teil einer Forscherdelegation nach "Deutsch-Südwestafrika" entsandt, wie Namibia von 1884 bis 1915 als Kolonie des Deutschen Kaiserreichs hieß. Er soll dort weiteres "Forschungsmaterial" beschaffen. Gleichzeitig lernt er die Völker der Herero und Nama immer besser kennen und verstehen. Sein Aufenthalt nimmt schließlich einen desaströsen Verlauf, als er im Januar 1904 Zeuge des "Herero-Aufstands" wird, mit dem die Einheimischen sich gegen den Raub ihres Weidelandes durch deutsche Siedler und Militär wehrten. Die Kolonialherrscher schlugen ihn blutig nieder und trieben in der Folge Massen von Menschen in die Wüste und ließen sie verdursten. Zehntausende Herero und Nama kommen ums Leben. Auch der junge Ethnologe wird sich, zumindest moralisch, schuldig machen ...
Erst 2021 erkannte die deutsche Regierung diesen ersten Genozid des 20. Jahrhunderts als Völkermord an und sagte den Nachkommen der Herero und Nama eine Entschädigung zu. Anfang der Neunzigerjahre, kurz nachdem Namibia als letztes afrikanisches Land unabhängig geworden war, reiste Regisseur Lars Kraume, gerade mit der Schule fertig, dorthin und war erstaunt über die deutlichen Spuren der deutschen Kolonialzeit: "In Swakopmund gibt es eine Bismarckstraße und es wird Schweinshaxe gegessen, und ich war noch ganz jung und sehr irritiert, weil ich davon überhaupt nichts wusste. Wie aktuell diese koloniale Vergangenheit tatsächlich ist, sieht man an den Debatten der letzten Jahre, um Raubkunst und den Umgang mit den verschiedenen ethnologischen Museen."
Die deutsche Kolonialzeit sei eine "weitgehend unerzählte Geschichte", führt der Regisseur im ARTE-Interview fort. Daran wollte er, der sich schon in "Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) und "Das schweigende Klassenzimmer" (2018) deutscher Geschichte gewidmet hatte, mit dem Kinofilm "Der vermessene Mensch" etwas ändern.
Über den Völkermord in Namibia einen Film zu drehen, war eine anspruchsvolle Aufgabe, bei der man viel falsch machen kann, das betont auch Kraumes Produzent Thomas Kufus: "Obwohl die koloniale Vergangenheit Deutschlands filmisch kaum bearbeitet wurde, ist Postkolonialismus ein sehr aktuelles und heikles Thema, das kontrovers diskutiert wird. Unser Vorhaben erforderte daher eine besondere Erzählform, Sensibilität und auch Überzeugungskraft bei der Finanzierung." Ihm und Kraume sei wichtig gewesen, nicht nur an Originalschauplätzen zu drehen, sondern vor allem auch "den Film nur in enger Zusammenarbeit mit namibischen Partnern zu realisieren." So waren lokale Historiker und Wissenschaftler an der Drehbuch-Entstehung beteiligt, die Kostüme und Kulissen stammen ebenfalls von Namibierinnen und Namibiern, und neben vielen anderen Darstellern stammt auch Girley Charlene Jazama, die die weibliche Hauptrolle der Kezia spielt und als Beraterin und Produzentin beteiligt war, aus Namibia.
"Jeder Film, der versucht, das so hart und realistisch zu inszenieren, wie es vielleicht wirklich war, scheitert fast immer, weil die Realität einfach noch viel brutaler ist", gibt Lars Kraume zu. "Das Elend, das diesen Menschen widerfahren ist, ist nicht zu inszenieren. Wir haben es daher nur angedeutet." Ihm sei wichtig gewesen, "mit der Kamera eine gewisse Distanz zu wahren, die neutral bleibt, nicht manipuliert". Ein wichtiges Mittel sei auch die Musik: "Sie schafft eine permanente Angst und Unruhe."
In Deutschland gab es neben viel Lob dennoch Kritik, der Blick sei zu eurozentrisch und kolonial. "In ganz Namibia" wiederum sei der Film "sehr positiv und interessiert aufgenommen" worden, sagt Girley Charlene Jazama. Indem er "ihre Geschichte zu Gehör bringt", diene der Film den Herero und Nama "als wichtiges Instrument in ihrem Kampf um Anerkennung und Entschädigung für die Gräuel, die ihren Vorfahren angetan wurden." Quelle: teleschau