Einer dieser Filme, die man erst einmal aushalten muss: Die Sozial- und Charakterstudie "Ein Mann seiner Klasse" erzählt von einer deutschen 90er-Jahre-Familie am Abgrund. Als Vorlage diente ein mehrfach ausgezeichneter autobiografischer Roman von Christian Baron. Die Milieustudie verzichtet auf Sozialromantik, zeigt aber auch den familiären Zusammenhalt in einfachen Verhältnissen.
"Ein Mann seiner Klasse"? Der Titel wirkt im ersten Moment provozierend und beinahe schon wie eine Frechheit. Viele Umschreibungen fielen einem zu dem Säufer und Frauenschläger Ottes ein, aber dass er ein Mann von "Klasse" sein soll - sicher nicht! Wer sich für Literatur interessiert, kennt die Geschichte vielleicht schon. Christian Baron veröffentlichte sie 2021 in einem viel beachteten autobiografischen Roman, wurde für "Ein Mann seiner Klasse" mehrfach ausgezeichnet. Jetzt kommt der schwer verdauliche Stoff in Spielfilm-Form in die Wohnzimmer. (Mi, 2. Oktober, 20.15 Uhr im Ersten)
"Schockierend, bereichernd und wichtig", so beschreibt der Verlag die Romanvorlage von Christian Baron. Schockierend, das gilt auch für die aufwühlende und in vielerlei Hinsicht sehr gelungene Verfilmung von Regisseur Marc Brummund, der gemeinsam mit Nicole Armbruster das Drehbuch erarbeitete. "Ein Mann seiner Klasse" spielt in Kaiserslautern im Sommer 1994 und richtet den Blick gezielt auf diejenigen, die am Rande der Gesellschaft vor sich hin schuften, Woche für Woche, Monat für Monat, und doch nicht nach oben kommen.
Der Titel des Buches und nun auch des Films lässt sich natürlich auch im Sinne des Klassendenkens lesen. Wobei politische Theorien oder Erklärungen in dieser Mischung aus Sozial- und Charakterstudie keine große Rolle spielen. Um die Menschen geht es, um ihre Existenzängste, um ihren täglichen Kampf, aber auch um ihre Würde und ihren Stolz.
Stolz, davon hat Ottes (Leonard Kunz) eine Menge. Er ist stolz darauf, seit 15 Jahren jeden Tag pünktlich bei der Arbeit auf der Matte zu stehen. Stolz, seine Familie mit anständiger Arbeit (bei einem Umzugsunternehmen) und ohne fremde Hilfe zu versorgen. Stolz auf seine Lauterer Herkunft, die ihn auch zum glühenden FCK-Fan macht. Aber ein Mann von Klasse ist er eben nicht. Eher ein erstklassiges Dreckschwein.
Wenn Ottes besoffen von der Arbeit nach Hause kommt und ihm irgendetwas nicht passt, verprügelt er seine Frau Mira (Mercedes Müller), und wenn sich eines der drei Kinder in den Weg stellt, dann kriegen auch die es ab. So abstoßend, wie Leonard Kunz (absolute Idealbesetzung!) diesen Typen verkörpert, möchte man als Zuschauer am liebsten selbst in den Fernseher hineinsteigen, ihn schlagen und treten und zur Tür hinausjagen.
Miras Schwestern verachten diesen Kerl, möchten die Poesie-Liebhaberin und die Kinder da rausholen. Aber Mira kommt nicht los von Ottes, es waren damals in den 90-ern eben noch andere Zeiten. Und egal, wie scheußlich er sich benimmt: Für den jungen Christian (Camille Loup Moltzen), aus dessen Sicht ein Großteil der Geschichte erzählt wird, bleibt er der geliebte Papa. Der starke Mann mit den großen, kräftigen Händen. Der Spielgefährte, der mit der Familie in den Freizeitpark geht, statt die Kinder in die Schule zu schicken. Der impulsive Lustmensch, der Rio Reisers "König von Deutschland" viel schöner nachgrölt als irgendjemand sonst.
Regisseur Marc Brummund scheut sich nicht, in seinem Film explizite Gewalt zu zeigen, wo er es für richtig hält. Noch heftiger ist "Ein Mann seiner Klasse" allerdings in den ruhigen Momenten, vor allem dann, wenn Ottes seinen Job verliert, Mama Mira schwer erkrankt und es mit der Familie endgültig den Bach herunterzugehen droht. Christian, der völlig verloren im Schulhof steht. Eine eingetretene Wohnungstür, die über Monate nicht repariert wird. Kinder mit knurrenden Mägen, die beginnen, den Schimmel von der Wand zu kratzen.
Die feinfühlige und doch schonungslose Art, wie Brummund dieses ganze Elend inszeniert, geht durch Mark und Bein. Aber ein bisschen Hoffnung bleibt dann doch noch. Christians Schule empfiehlt für den hochsensiblen Jungen einen Wechsel aufs Gymnasium. Vielleicht gibt es ja eine Chance, dass er es später einmal besser hat ... Quelle: teleschau