Wer war der Al Capone, wer der Sherlock Holmes von Berlin? „XY history“ zeigt zum Auftakt zwei Männer, die Geschichte schrieben.
Ein Artikel von Angela Zierow
Maßanzug, weiße Krawatte, Budapester Schuhe, keine Skrupel: Werner Gladow will der Al Capone von der Spree werden. Mit nur 17 Jahren führt der Berliner, von seinen Kumpanen „Doktorchen“ genannt, eine der berüchtigtsten Gangsterbanden der Nachkriegszeit an. Die Ideen für seine Raubzüge klaut er aus Romanen und Hollywoodfilmen. Mit über 70 Kriminellen macht er die Trümmerstadt unsicher.
Der beginnende Kalte Krieg und die Tatsache, dass die vier Sektoren kein einheitlicher Rechtsraum sind, spielen Gladow in die Hände. Zwei Jahre lang jagt ihn die Po lizei vergeblich. Über 350 Straftaten werden seiner Bande schließlich zur Last gelegt: Erpressung, Raub, Folter, Mord – alles dabei. Hollywoodreif ist auch das Ende des Friedrichshainer Metzgersohns: Nach einer Schießerei wird er verhaftet. 1950 fällt das Urteil: dreimal Todesstrafe. Seine Reaktion: „Einmal Rübe ab lass ich mir ja gefallen. Aber das zweite und dritte Mal, das ist Leichenschändung.“ Die Hinrichtung sorgt nicht nur wegen der Kaltschnäuzigkeit des 19-Jährigen für Schlagzeilen. Der Bandenchef ist einer der ersten, der in der noch jungen DDR hingerichtet wird.
Im neuen Aktenzeichen-Ableger „XY history“ (Mi, 4. September, 20.15 Uhr im ZDF) stellt Sven Voss spektakuläre Verbrechen der deutschen Kriminalgeschichte vor, die bis heute nachwirken. Er zeichnet Lebenswege von Gangstern wie Werner Gladow und legendären Ermittlern wie Ernst Gennat nach. Der Moderator und True-Crime-Experte erklärt an Originalschauplätzen die Tathergänge, ordnet ein, spricht mit Ermittlerteams und Historikern. Ihn interessierten vor allem „die vielschichtigen Aspekte“, so Voss. „Die Entwicklungen in der Kriminaltechnik, die unterschiedlichen Motive und Vorgehensweisen der Täter und die Sehnsucht der Angehörigen nach Gerechtigkeit.“
Mithilfe von Fachleuten sucht Voss nach Parallelen: Gibt’s Ähnlichkeiten zwischen der Gladow-Bande und dem heutigen organisierten Verbrechen? Er wird fündig: Nach wie vor ist Berlin Zentrum der Bandenkriminalität in Deutschland. Statt Gangs zeichnen jetzt aber kriminelle Großfamilien wie der Remmo-Clan für dreiste Coups verantwortlich, etwa für den Münzraub im Bode-Museum 2017.
Anders als Ende der 1940erJahre ist die Kripo heute jedoch gut vernetzt und hat Hightech-Unterstützung. Die erste Mordkommission Voss erläutert, wie sich Ermittlungsmethoden verändert haben. Welche „Klassiker“ helfen noch heute, was wird die Zukunft bieten? Einer, dessen Innovationen weiterhin von Bedeutung sind, ist der Berliner Kriminalrat Ernst Gennat. Anhand eines Falles aus der Weimarer Republik, dem Raubmord an der 18-jährigen Dora Perske, zeigt „XY history“, wie Gennat in den 1920er-Jahren die Ermittlungsarbeit revolutionierte.
Der wegen seiner Leibesfülle „Buddha vom Alexanderplatz“ genannte Kriminalist richtete die erste spezialisierte Mordkommission ein und erfand 1926 das „Mordauto“, einen umgebauten Mercedes-Benz mit Büroeinrichtung. 1938 initiierte er die erste Öffentlichkeitsfahndung im Fernsehen – sozusagen den Vorläufer von „XY“. Voss: „Ich habe für ‚XY history‘ ganz unterschiedliche Typen von Ermittlern getroffen, ihr kriminalistisches Denken hat mich bei allen beeindruckt. Immer wieder ging es auch um die Polizeiarbeit im letzten Jahrhundert. Noch heute greift die Polizei auf die Ermittlungsmethoden von früher zurück. Sie sind die Basis für erfolgreiche Verbrechensbekämpfung.“
Wie bei den „XY“-TrueCrime-Formaten üblich, werden die historischen Fälle in Spielszenen erzählt, ergänzt durch eigens nachkoloriertes Archivmaterial. Klingt spannend? Weitere Folgen sind für 2025 geplant.