Thilo Mischke interviewt Gangster, Neonazis und Drogendealer – was ist der Reiz daran?

28.10.2024 um 17:15 Uhr
    Thilo Mischke interviewt Gangster, Neonazis und Drogendealer  | © ProSieben
    In Brennpunkten weltweit im Einsatz: TV-Reporter Thilo Mischke (43) | ©ProSieben

    In der neuen Doku von TV-Reporter Thilo Mischke geht es um radikale Christen, die heimlich immer mächtiger werden. Bei HÖRZU erklärt er, warum ihn die Extreme so reizen.

    Ein Artikel von HÖRZU Reporter Michael Tokarski

    Dieser Mann ist ein Albtraum für jede Versicherung. Thilo Mischke war als TV-Reporter in Mexiko mit Drogenkartellen unterwegs und hat im Irak Freiheitskämpferinnen begleitet. Er hat Killer in Japan ebenso interviewt wie Drogendealer auf den Philippinen. Seit 2016 ist Mischke für die ProSieben-Reihe „Uncovered“ in den Brennpunkten dieser Welt im Einsatz – als Reporter und Doku-Produzent. „Ja, wir sind spezialisiert auf Extremisten“, sagt der 43-Jährige beim Treffen mit HÖRZU in Hamburg. „Mich reizen weniger die Grauzonen, sondern mehr die Bereiche, die gefährlich sind und uns als Gesellschaft betreffen.“ Mit Erfolg: So gewann etwa seine Reportage über die Taliban in Afghanistan 2023 den Deutschen Fernsehpreis. Morden im Namen der Bibel Nun starten zwei neue Dokumentationen von und mit Mischke. In „Forrest Trump“ (4.11., ProSieben) wirft er pünktlich zur US-Wahl einen persönlichen Blick auf die USA.

    Vorher aber läuft die Reportage „Radikale Christen und ihr Griff nach der Macht?“ (Mo, 28. Oktober, 20.15 Uhr bei ProSieben). Über die Idee zur Doku sagt Mischke: „Viele westliche Attentäter der letzten Jahre haben sich in ihren Manifesten auf die Bibel berufen. Ich habe mich gefragt: Wieso steht bei islamistischen Gewalttätern die Religion unter Verdacht, aber bei Christen sprechen wir immer vom ‚verrückten Einzeltäter‘?“ Die Recherche führte ihn auch nach Oklahoma in den Bible Belt, einen streng religiösen Teil der USA, in dem evangelikale Bewegungen besonders stark sind.

    Viele der Anhänger vertreten fundamentalistische Ansichten, verdammen Homosexualität, Evolutionstheorie und Gleichberechtigung. Mischke besuchte sogenannte Megachurches. Mehrere Tausend Menschen passen in diese Kirchen, die dank großzügiger Spenden riesige Umsatzbringer sind. Als einem der ersten Journalisten gelang es ihm, mit international führenden Köpfen der evangelikalen Kirchen zu sprechen. „Sie finden die Spenden nicht anrüchig, weil in ihrer Religionsauslegung finanzieller Erfolg Teil der göttlichen Anerkennung ist. Sie haben es geschafft, den Glauben komplett zu kapitalisieren.“ Geld ist das eine. Doch der Einfluss der Glaubensgemeinschaften ist längst auch politisch. US-Gesetze, etwa zur Abtreibung, wurden geändert, an Schulen werden missliebige Bücher verboten. Kirchen machen Wahlwerbung für Donald Trump.

    Auch in Deutschland beobachtet Mischke ein Erstarken erzkonservativer Christen, interviewte christliche Influencer. „Ich war überrascht, wie modern und unschrullig diese Menschen sind“, sagt er. Ein gutes Beispiel seien die O’Bros, ein junges Hip-Hop-Duo aus München, das es mit Songs über Gott bis auf Platz zwei der deutschen Albumcharts schaffte. „Das sind zwei coole Typen, nahbare Christen – aber eben mit radikalen Ansichten.“ Für seinen Film reiste Mischke auch ins ostafrikanische Uganda, eines der ärmsten Länder der Welt. Ein Erlebnis sei besonders hängen geblieben: eine Pastorin, die vor 10.000 Menschen predigte. „Sie sagte: ‚Wer von euch Aids hat, der ist jetzt geheilt!‘ Diese Niedertracht fasziniert mich. Ich verurteile sie nicht. Stattdessen will ich verstehen, wieso sie so handelt. Deswegen gehe ich in alle meine Interviews ohne Vorurteil – egal ob es eine Pastorin in Uganda ist, ein Neonazi in Sachsen oder ein Drogendealer in Kolumbien.“

    Therapie nach Nigeria-Dreh

    Reportagen und Interviews in aller Welt haben Mischkes Perspektive verändert. „Es gibt Menschen, die morden mit Waffen“, sagt der Journalist. „Aber wenn wir unseren eigenen Alltag ehrlich anschauen, müssen wir zugeben: An so vielen Dingen, die wir besitzen, klebt Blut. Man denke nur an die Rohstoffe für Handys. Unser Wohl stand ist ein Produkt von Gewalt. Ich empfinde es als Privileg, dort hinzugehen und zu sehen: Okay, das ist die Wirklichkeit, Frieden ist die Ausnahme.“

    Doch diese Arbeit hinterlässt auch Spuren. Nach einem Interview in Nigeria mit einem Kommandanten der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram über dessen Gräueltaten beginnt Mischke eine Therapie. „Eine der ersten Fragen der Therapeutin war: ‚Herr Mischke, wo haben Sie mal etwas richtig Gefährliches erlebt?‘ Eigentlich nirgends, dachte ich. Ich sollte trotz dem anfangen aufzuschreiben. Kurze Zeit später hatte ich 25 Situationen aus den letzten Jahren aufgeschrieben. Gefahr habe ich nie vor Ort gespürt, sondern erst nachträglich, als ich zu Hause war.“

    Ist eine TV-Reportage es wert, sein Leben zu riskieren?

    "Die Frage habe ich mir nie gestellt“, sagt er. „Wenn ich das tun würde, könnte ich die Arbeit nicht machen, die ich mache.“ Mit einer Mischung aus Neugier und Hybris wagte sich Mischke 2019 auch in den Darién Gap. Der 100 Kilometer lange Streifen zwischen Panama und Kolumbien gilt als gefährlichste Migrationsroute der Welt. Ohne größere Vorbereitung marschierte er mit kleinem Drehteam sechs Tage durch den sumpfigen Dschungel. Hier kann eine Begegnung mit Drogenkurieren oder wilden Tieren jederzeit den Tod bedeuten. Wie durch ein Wunder überstand das Team den Trip. „Das war das Gefährlichste, was ich je getan habe“, verrät der Reporter im Interview. „Je älter ich werde, desto weniger bereit bin ich, Risiken einzugehen, weil ich noch was von meinem Leben haben will. Rückblickend denke ich aber, dass ich den Leichtsinn der Jugend gut eingesetzt habe.“

    „Radikale Christen und ihr Griff nach der Macht?“ (Mo, 28. Oktober, 20.15 Uhr bei ProSieben)