Zum TV-Film „Bach“ im Ersten: Warum das Weihnachtsoratorium uns auch nach knapp 300 Jahren in seinen Bann zieht.
Ein Artikel von HÖRZU Reporter Michael Tokarski
Schon die ersten Worte des Chores haben Symbolcharakter: „Jauchzet, frohlocket!“ Wenn das Weihnachtsoratorium auf dem Spielplan steht, kommen die Menschen in Scharen. Ob in Kirche oder Konzerthalle: Das mehrstündige Werk von Johann Sebastian Bach über die biblische Weihnachtsgeschichte ist das beliebteste klassische Stück in der Adventszeit – und das fast 300 Jahre nach seiner Premiere in Leipzig 1734. „Allein in Berlin gibt es in der Advents- und Weihnachtszeit mehrere Dutzend Aufführungen“, sagt der Musikwissenschaftler Bernhard Schrammek im Interview mit HÖRZU. „Kein anderes Werk fängt die Besonderheit des Weihnachtsfests musikalisch besser ein. Das volle Orchester mit Pauken und Trompeten verbreitet den feierlichen Glanz von Weihnachten, die sanften Melodien gehen direkt ins Herz. Ich sehe in den Aufführungen oft Menschen mit Tränen in den Augen.“
Dieser Erfolg des Weihnachtsoratoriums war nicht abzusehen. Zum einen, weil das Werk erst lange nach Bachs Tod wiederentdeckt wurde – dazu später mehr. Zum anderen, weil die Entstehung dieser himmlischen Musik von allzu irdischen Streitigkeiten begleitet war. So erzählt es zumindest ein neuer Historienfilm (Mi, 18. Dezember, 20.15 Uhr im ZDF). „Bach: Ein Weihnachtswunder“ spielt im Dezember 1734 in Leipzig. Für das Weihnachtsfest arbeitet Johann Sebastian Bach (Devid Striesow), strenger Leiter des Thomanerchors, an seinem ambitioniertesten Kirchenstück – gegen die Widerstände des engstirnigen Stadtrats. „Zwischen Bach und dem Stadtrat gab es ständig Ärger“, so Bernhard Schrammek, der dem Film als Fachberater zur Seite stand und zudem die Nahaufnahmen am Cembalo doubelte. „Die Stadt wollte jemanden haben, der in erster Linie Musik und Lateinunterricht gibt und das tut, was man ihm sagt.“
Doch Johann Sebastian Bach (1685–1750) sah sich hauptsächlich als Komponist. Sein außergewöhnliches Talent sorgte auch überregional für Aufsehen. „Die Stadt hatte Sorge, dass Bach zu berühmt werden könnte, um ihn noch zu kontrollieren“, sagt Schrammek. „In Protokollen hieß es, Bach zeige sich ‚widerspenstig und incorrigibel‘, seine Musik sei ‚zu opernhaft‘ für die Kirche.“ Was in den Tagen vor dem Fest 1734 genau geschah, ist unklar. „Über die Umstände wissen wir praktisch nichts“, sagt der Klassikexperte. „Letztlich war dies ein großer Vorteil. Der Film hatte alle Freiheiten, die Leerstellen plausibel zu füllen.“
Auch über den Menschen Bach ist nur wenig bekannt. Aufzeichnungen gibt es kaum, Tagebuch führte Bach auch nicht. Und doch musste Devid Striesow dem Musikgiganten im Film Leben einhauchen. Fühlte sich der Schauspieler („Ich bin dann mal weg“) vom Angebot, den großen Komponisten zu spielen, geehrt – oder eher eingeschüchtert? „Es war eine Mischung aus beidem“, gesteht Striesow im Interview mit HÖRZU. Allerdings hatte der 51-Jährige einen großen Startvorteil: Bereits seit seinem sechsten Lebensjahr spielt Striesow Geige, mehrere Jahre moderierte er auch einen Podcast über klassische Musik. „Ich glaube, man muss in irgendeiner Form eine Beziehung zu dieser Musik haben, um da einzutauchen“, sagt er. Dies sei kein Bonus, sondern „Grundvoraussetzung“.
Er fühle sich Bach besonders verbunden, so Striesow weiter: „Wenn ich an Orte komme, an denen ich noch nie war, und Bach gespielt wird, fühle ich mich irgendwie zu Hause.“ Was das Äußerliche betrifft, war der Hauptdarsteller umso mehr gefordert. „Ich habe mir in kurzer Zeit 20 Kilo angefuttert, um mir körperlich die Präsenz dieser Figur zu erarbeiten – diese Masse eines Mannes, der viel Bier getrunken und gut gegessen hat“, sagt Striesow, der zum Zeitpunkt des Interviews schon wieder 17 Kilogramm abgenommen hat. Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel wird gespielt von Ludwig Simon („Charité“) – Striesows eigenem Sohn.
„Ich hatte sehr gehofft, dass Ludwig zusagt“, sagt Striesow. „Wir haben schon mal im ‚Tatort‘ miteinander gespielt, da war Ludwig aber noch ein bisschen jünger. Jetzt waren wir sozusagen auf Augenhöhe.“ Kein Dreh wie jeder andere. „Man möchte vor dem eigenen Sohn dann doch die eigene Professionalität und die eigene Begabung präsentieren“, sagt der TV-Star. „Es ist schon eine spezielle Grundspannung, die da herrscht.“ Ein weiteres Highlight für Striesow beim Dreh: die Szenen, in denen er den Taktstock schwingen durfte. Der Star hatte für den zweitägigen Dreh der Uraufführung des Oratoriums extra Unterricht im Dirigieren genommen. „Ich durfte die Thomanerknaben und das Orchester dirigieren auf der Empore im Merseburger Dom.“ Diese Kirche hatte man als einen der Drehorte gewählt. Striesow weiter: „Den Einsatz zu geben für die Pauken am Anfang – das war wirklich gigantisch für mich.“
Die Reaktionen bei der Premiere Weihnachten anno 1734 sind nicht überliefert. Was aber bekannt ist: Nicht alle Melodien, die damals durch die Leipziger Nikolaikirche schallten, waren neu. Einige hatte Bach von einem der größten Komponisten aller Zeiten geklaut – sich selbst. „Bach hat das häufig gemacht“, erklärt Bernhard Schrammek. „Vor allem mit Werken, von denen er wusste, dass er die nie wieder aufführen kann.“ So finden sich im Weihnachtsoratorium Elemente der Glückwunschkantate für die Kurfürstin von Sachsen. „Aber Bach hat die Musik nicht eins zu eins übernommen, sondern hat sie bearbeitet, hat Tonarten, Stimmlagen oder Instrumente gewechselt. Sich so zu zitieren, dass es praktisch ein neues Stück wird, das ist Teil von Bachs Genialität.“
Genie hin oder her – nach der Uraufführung geriet das Weihnachtsoratorium in Vergessenheit. Der Komponist selbst hat die Noten seines Werks nie drucken lassen. Und Kantaten – jene feierlichen, musikalischen Gottesdienststücke, aus denen das Oratorium bestand –, galten im 19. Jahr hundert als altmodisch. Zwar gab es einzelne Aufführungen. Doch bis zum Durchbruch sollte es noch dauern. „Im Grunde wurde das Stück erst im frühen 20. Jahrhundert wiederentdeckt“, so Schrammek. „Immer mehr erkannten seine Qualitäten und dass es auch außerhalb des Gottesdiensts wunderbar passt. Und mit den Stereo-Schallplatten ab den 1950ern wurde das Stück allgegenwärtig.“ Für den Siegeszug des Weihnachtsoratoriums half es, dass es nicht schwierig zu singen ist. „Die ersten drei der insgesamt sechs Kantaten schafft jeder Kirchenchor mit ein bisschen Übung“, so der Musikwissenschaftler. Beim Publikum verfehle das Stück selten seine Wirkung: „Es ist die perfekte Gelegenheit, rund um die Festtage innezuhalten, ein musikalischer Rückzugsort gerade auch in krisenhaften Zeiten.“
Was Bach wohl sagen würde, wenn er sähe, dass sein Werk zum Klassiker geworden ist? Schließlich hatte er es 1734 wohl zur einmaligen Aufführung geschrieben. „Bach war immer interessiert, seine Musik unter die Menschen zu bringen. Er wäre garantiert stolz“, glaubt Bernhard Schrammek. „Aber er würde auch sehr kritisch hinhören. Säße er in einer heutigen Aufführung, würde er danach zum Dirigenten gehen: ‚Das war schon ganz schön. Aber diese eine Stelle müssen Sie anders spielen lassen!‘ So stellen wir Bach auch im Film dar: unnachgiebig, manchmal unerbittlich. Wenn jedoch seine Musik so erklingt, wie er sie sich vorgestellt hat, ist es für ihn das Größte.“