Katja Oskamps zum Teil autobiografisches Buch "Marzahn Mon Amour" erzählt von einer Schriftstellerin, die wegen Geldknappheit als Fußpflegerin im Berliner Plattenbauviertel Marzahn anheuert. Jördis Triebels melancholische und doch lebensbejahende Serienversion ist außergewöhnlich.
Kann ein Buch, kann eine Serie zutiefst melancholisch daherkommen und trotzdem ein Gefühl von Hoffnung transportieren? Was sonst eher anderen Nationen gelingt, geht in der deutschen Miniserien-Perle "Marzahn Mon Amour" überraschend und anrührend auf. Die Geschichte der sechsmal knapp 25 Minuten ist schnell erzählt: Kathi (Jördis Triebel), Mitte 40, steckt in einer Lebenskrise. Die Schriftstellerin hat keine Aufträge, ihr Mann ist gerade ausgezogen und Teenie-Tochter Lilly (Maja Bons) genervt von all dem. Plattenbaubewohnerin Kathi zieht es ein paar Häuser weiter in die "Beauty Oase Marzahn", in der Jenny (Yvonne Yung Hee Bormann) und ihre angestellte Kosmetikerin Lulu (bärenstark: Deborah Kaufmann) noch eine Fußpflegerin benötigen.
Statt aus Laptop und wohlfeilen Worten besteht Kathis neue Welt aus einem weißen Kittel, dem "Thron" genannten Kundenstuhl und mannigfaltigem Gerät, mit dem Füße auf Vordermann gebracht werden. Viele von Kathis Kunden sind alte Menschen, die ihr ihre Geschichte erzählen. Einige davon sind wahr, andere erweisen sich später als anders denn zunächst gedacht. Da ist ein alter Stasi-Mann und Nachbar (Hermann Beyer), den keiner mag und den das Leben verbittert hat werden lassen. Eine nervige Tochter (Katrin Heller) kommt mit ihrer verwahrlosten Mutter (Monika Lennartz). Die tiefenentspannte Frau Baumüller (Eva Weißenborn) scheint ein Vorbild zu sein, wie man im Alter glücklich leben kann. Doch trügt auch hier der Schein? Das Ehepaar Henke (Ursula Werner und Carl Heinz Choynski) kommt zur Goldenen Hochzeit vorbei. Sieht so die perfekte Liebe aus?
Auch wenn in der von Leona Stahlmann, Niklas Hoffmann und Antonia Rothe-Liermann geschriebenen Serie nach Katja Oskamps zum Teil autobiografischem Buch "Marzahn Mon Amour" die Auftritte vieler betagter Schauspielstars Höhepunkte darstellen: Es gibt auch eine fesselnde horizontale Erzählstruktur. Sie beschreibt das Verhältnis der drei "Beauty Oase Marzahn"-Queens und ihre Freundschaft. Es geht ums Überleben der Menschlichkeit in prekären Lebensverhältnissen und um die Reise Kathis zu sich selbst. Ist man gescheitert, wenn man sich als Autorin plötzlich im weißen Arbeitskittel zu Füßen "kleiner Leute" wiederfindet?
Mit Sicherheit nicht, wie die Serie von "Die Zweiflers"-Regisseurin Clara Zoe My-Linh von Arnim erzählt. "Das Bittere, das ich vor mir hertrug, ist verschwunden", sagt Kathi irgendwann aus dem Off. "Und mit ihm der letzte Rest jugendlicher Arroganz. Du bist dermaßen unsichtbar in deiner weißen Kleidung, dass du dich unbemerkt in deinen bunten Kunden spiegeln kannst, wenn sie auf dem Thron sitzen." In der Serie, die vor allem im Salon spielt, aber auch in Kathis Wohnung und den Plattenbau-Schluchten dazwischen, geht es immer wieder um Einsamkeit und Gemeinschaft. Man sieht und spürt, dass es verdammt schwer ist, wenn wir alleine sind. Dass es aber auch nicht einfach ist, mit anderen zusammen zu sein.
Immer ist in "Marzahn Mon Amour" das Geld knapp. Und stets versucht man trotzdem, den Kapitalismus in Richtung Menschlichkeit zu biegen. Ein solcher Erzählansatz kann furchtbar schiefgehen - in Richtung Sozialkitsch - doch hier geht er zu einhundert Prozent auf. Ein Grund neben dem guten Buch und einer großartig beobachtenden Regie ist das tolle Ensemble, aus dem Jördis Trieben, die tatsächlich in Marzahn aufgewachsen ist, heraussticht.
Die Intensität der 47-jährigen Berlinerin ist fast schon das Schauspiel des Jahres. Triebel liefert eine denkwürdige Leistung ab, die lange in der Seele des Betrachters hängenbleibt. Besonders ist, dass Kathi eine Rolle ohne viele Worte ist. Man erlebt den seltenen Fall, dass eine Hauptfigur weniger redet als viele Nebenfiguren. Doch das Zuhören, Nachdenken und Fühlen zu spielen, ist die vielleicht sogar größere darstellerische Leistung.
"Marzahn Mon Amour" tut bei aller melancholischer Grundstimmung einfach gut. Und man braucht doch Geschichten der Hoffnung, der Würde und Menschlichkeit in diesen Tagen. Gerade aus einem als Ghetto verschrienen Großstadtkosmos, der hier mal ganz anders leuchten darf und stellvertretend für ähnliche Viertel mit Kathi sagt: "Du schaust in die Augen der Bewohner Marzahns, die dort vor 40 Jahren hingezogen sind, und jetzt mit Rollator, Sauerstoffgerät und Mindestrente tapfer ihr Leben zu Ende bringen. Die manchmal tagelang mit niemandem reden. Die uns, wenn sie ins Studio kommen, ihre hungrigen Herzen ausschütten. Jede Berührung dankbar aufsaugen. Und glücklich sind an diesem Ort, an dem sie nicht wie die Vollidioten der Nation behandelt werden." Quelle: teleschau